Loading...

«Traum und Alptraum»

Krieg, Flucht, Ankunft und Aufarbeitung. Die bewegende Geschichte von Mohamed Camara.

Mohamed Camara

Eine raue Gebirgskette ziert die Küste dieser westafrikanischen Gegend. Der portugiesische Eroberer Pedro hatte einst die Idee, das Land nach einem Löwen zu benennen: Sierra Leone, Löwengebirge. So stolz der Name klingt, so heftig wurde die Bevölkerung in den 1990er-Jahren durch einen blutigen Bürgerkrieg erschüttert. Tausende Kinder haben als Soldaten in einem zehnjährigen Bürgerkrieg gekämpft, der von der westlichen Zivilisation kaum wahrgenommen wurde, an dem sich einige Diamanten- und Waffenhändler gleichwohl eine goldene Nase verdient haben. Heute, zehn Jahre nach Kriegsende, gehört das Land mit dem stolzen Namen zu den ärmsten Nationen der Welt. Auf dem Tagesprogramm stehen Wiederaufbau und die Rückkehr in die Normalität.

Der angenehme Zeitgenosse 

Mohamed Camara ist ein ruhiger Typ mit tiefer Stimme, der seine Worte mit Bedacht wählt. In seiner Heimat nannten sie ihn „Mystikal“, den Geheimnisvollen. Manchmal, wenn auch selten, sprudelt ein lautes, ansteckendes Lachen aus ihm heraus. Seit Camara eines Tages im Neufeld aufgetaucht ist und mittrainiert hat, sind einige Jahre ins Land gezogen. Camara hatte eine Schule besucht, die Sprache gelernt und eine Lehre als Bodenleger abgeschlossen. Heute organisiert er neben der Arbeit afrikanische Partys. Über seine Vergangenheit wissen die wenigsten Bescheid. Wenn, dann sind es Spieler, die vor zehn Jahren im Neufeld trainierten und auf einen Artikel in der Berner Zeitung aufmerksam wurden, in dem die bewegende Geschichte Camaras erzählt wurde.

Narben der Gewalt 

An seinem robusten Körper zeugen zwei Stellen von einer gewaltsamen Vergangenheit. Ein Tattoo auf der Unterseite seines Oberarmes: „RUF“, das Kürzel für „Revolutionary United Front“, die Rebellenarmee Sierra Leones, die im Bürgerkrieg gegen die regierungstreuen Truppen kämpfte und für ihren Krieg an der Zivilbevölkerung berüchtigt war. Und die Narbe an seinem linken Fuss, die auf eine Schussverletzung hindeutet. Viel schwerer aber wiegen die Spuren, die der Krieg in Camaras Gedächtnis hinterlassen hat: die Erinnerungen an die Bilder der Gewalt, an das Geräusch von Maschinengewehren und die Sehnsucht nach seiner Familie, die er seither nicht wieder gesehen hat.

Gehirnwäsche im Rebellencamp 

Camara ist 14 Jahre jung, als er mit dem Bus in die Hauptstadt Freetown fährt, wo er seinen Onkel besuchen möchte. Es ist 1995 und der Bürgerkrieg in Sierra Leone dauert schon seit vier Jahren an. Auf der staubigen Landstrasse wird der Bus von den Rebellen der RUF überfallen. Die Leute, die mit ihm im Bus reisen, wird er nie wieder sehen. Stattdessen wird Camara in ein Rebellenlager gebracht. Er wird mit 14 Jahren Kindersoldat. Es ist ein dramatischer Eingriff in seine Kindheit und in sein Leben. Camara begreift sofort, dass er keine Wahl hat, weil das eigene Überleben auf dem Spiel steht. Wer nicht gehorcht, wird beseitigt. Den Kindern werden Drogen verabreicht. Das Hantieren mit Waffen wird ihnen eingetrichtert. Der Drill im Rebellenlager kommt einer brutalen Gehirnwäsche gleich.

Fünf Jahre unter Starkstrom 

Camara sollte fünf Jahre Kindersoldat sein. Die Rebellen der RUF ziehen raubend von Dorf zu Dorf, verstümmeln Zivilisten, damit sie nicht an den Wahlen teilnehmen können und entführen Leute, die sie später als Sklaven für die Suche nach Diamanten einsetzen. Immer wieder greifen die Rebellen die Hauptstadt Freetown an. Auch Camara ist dabei, als sich die Rebellen 1996 wochenlang in den Bergen um Freetown verschanzen, ehe sie die Stadt zu besetzen versuchen. Allianzen und Fronten wechseln in den Wirren des Krieges laufend. Angetrieben wird der Bürgerkrieg durch den Handel mit Diamanten. Die RUF verfolgt das Ziel, die Regierung zu stürzen und die Kontrolle über den korrupten sierraleonischen Diamantenring zu erlangen (siehe „Der Bürgerkrieg in Sierra Leone“).

Gier nach Diamanten 

Camaras Kommandant ist kein schlechter Mensch. Er fordert seine Schützlinge nicht zum sinnlosen Töten und Verstümmeln auf. Der „Commander“ scheint gesunden Menschenverstand walten zu lassen. Camara schätzt diese Eigenschaft und bedankt sich, indem er seinen Job macht. Da Camara zu den älteren Kindersoldaten gehört, wird er schon bald selbst zum Kommandanten und hat 15 Leute unter sich. Er bewacht die Sklaven, die im sumpfigen Fluss mit Sieben nach Diamanten schürfen. Alle zwei Wochen landet ein Helikopter im Rebellenlager. Die Diamanten werden eingeladen und nach Liberia, dem südlichen Nachbarland geflogen.

Flucht nach Europa 

Im Jahr 2000, nach fünf Jahren als Soldat, flüchtet Camara in einer Nacht- und Nebelaktion von Kabala ins nördliche Guinea. Dort trifft er auf einen „White Man“, der ihn und seine Fluchtgefährten in ein sicheres Versteck bringt. Camara trägt ein paar Diamanten bei sich. Sie sollten später sein Ticket für die Reise nach Europa bedeuten. Zwei Monate und zwei Wochen harren die Flüchtigen im Versteck aus. Die Gefahren lauern überall, denn auch Guinea ist in den Krieg verstrickt. Im Tausch gegen die Diamanten bringt der „White Man“ Camara und seine Gefährten in ein Flugzeug nach Italien, wo man sich trennt. Doch Italien ist für Flüchtlinge eine Sackgasse, also wird Camara in einem Auto in die Schweiz gebracht.

Ankunft und Aufarbeitung 

Der Krieg hat Narben in Camaras Seele hinterlassen. In der Nacht hört er Geräusche und gerät in einen Stresszustand. Immer wieder sucht ihn der gleiche Alptraum heim: Er ist es, der mit dem Maschinengewehr wild um sich schiesst. Die Bewältigung seiner Vergangenheit erfordert viel Geduld und Eigeninitiative. Bis heute strengt es ihn an, über seine Vergangenheit zu sprechen, da es Schuldgefühle in ihm auslöst. Eine Frau aus dem Asylantenheim stellt schliesslich den Kontakt zu einer Psychotherapeutin her. Die Therapie hilft ihm Erlebtes aufzuarbeiten, die Träume werden seltener. Camara tut aber auch seinen Teil zur Zerstreuung. Beim Fussballtraining im Neufeld findet er die Freude am Spiel, was ihm hilft ausgeglichener zu sein. Und er heuert beim Stadttheater Bern als Laienschauspieler an. Die Ironie des Schicksals: Nun ist es Camara, der in einem Theaterstück den Sklaven mimt.

Der Traum vom Wiedersehen

Vor vier Jahren fand Camara über Facebook den Ehemann seiner Cousine. Er lebt in London und stellte den Kontakt zu seiner Mutter her, die noch immer in der Stadt Bo lebt. Als er seiner Mutter erzählt, wer er ist, glaubt sie ihm zunächst nicht. Nun träumt Camara davon, für ein paar
Wochen nach Sierra Leone zurückzukehren und erstmals seine Mutter und seine Geschwister wiederzusehen. Er möchte vor Ort Vergangenheitsbewältigung betreiben und die Orte aufsuchen, an denen Schlimmes geschah. Auch möchte er aus dem Überfluss in der Schweiz altes Sportmaterial mitnehmen, eine Fussballschule gründen und so ein wenig Glück in seine Heimat bringen. Vor kurzem hat Camara bei der Eidgenossenschaft einen Einbürgerungsantrag eingereicht. Er möchte Verantwortung übernehmen und mitbestimmen können – eine Möglichkeit, die ihm in seiner Jugend verwehrt geblieben ist.

Sierra Leone in Westafrika

Der Bürgerkrieg in Sierra Leone

Der Bürgerkrieg dauerte von 1991 bis 2002. Die Angaben über die Zahl der Todesopfer variieren zwischen 50’000 und 200’000. Ca. 20’000 Verstümmelte (Amputees) erinnern heute in Sierra Leones Alltag an den Bürgerkrieg. Amnesty International schätzt die Zahl der rekrutierten Kinder auf 5’000. Nicht nur die RUF (Revolutionary United Front) setzte unzählige Kindersoldaten ein, sondern auch die regierungstreuen Truppen. In den elf Kriegsjahren wechselten Regierungen, Fronten und Allianzen laufend. Neben der RUF, die von Foday Sankoh geführt und von dem liberianischen Kriegsherrn und späteren Staatspräsidenten Charles Taylor unterstützt wurde, waren u.a. folgende Konfliktparteien in den Krieg involviert: Die Regierung von Sierra Leone, die Sierra Leone Armed Forces, südafrikansiche Söldner, die ECOMOG-Truppen des westafrikanischen Wirtschaftsraums unter der Führung von Nigeria und Grossbritannien, die Armed Forces Revolutionary Council sowie die West Side Boys. Die sumpfigen Flüsse Sierra Leones sind reich an Diamanten. Sie spielten eine wesentliche Rolle im Bürgerkrieg. Seit der Unabhängigkeit 1961 von Grossbritannien spielten diejenigen mit der Macht, die vom Handel mit den Diamanten profitierten, was unweigerlich zu Korruption und Misswirtschaft führte. Die Rebellen der RUF versuchten den Diamantenring zu sprengen, indem sie sich gewaltsam in den Handel einmischte.

Hintergrundinformation:

Der Artikel über das Schicksal von Mohamed Camara wurde im Oktober 2012 im Fussballmagazin des FC Bern, «Dr Bärner», abgedruckt. Eine Fortsetzung ist in Arbeit.Zur digitalen Version von “Dr Bärner”.